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Gütersloh – eine Annäherung

Rede von Prof. Manfred Harnischfeger zur Ausstellungseröffnung „Kaff und Kosmos“ am 4. März 2001 im Stadtmuseum Gütersloh

Wer – um Himmels willen – hat mir das angetan: In Gütersloh vor Güterslohern über Gütersloh reden zu müssen – an einem Sonntagvormittag, an dem der interessierte Bürger und Zeitgenosse beim späten Frühstück den Wirtschaftsteil der „Welt am Sonntag“ oder das Feuilleton der „FAZ“ studiert und sich für den Spaziergang durch den Stadtpark rüstet?

Wer mich einlädt mit dem Hinweis, ich sollte jene Kaff-Kosmos-Ambivalenz darstellen, die auch mein berufliches und privates Leben in Gütersloh kennzeichne, der darf keinen Kiosk freundlicher, süßer Begriffsdevotionalien erwarten, sondern bestenfalls ein stammelndes Sowohl als auch, Einerseits andererseits, Ja aber.

Gewiss, mehr als 1000 mal in den nahezu 30 Jahren meines ostwestfälisch zentrierten Lebens habe ich Wahl-Nazarener allen Ungläubigen südlich des Weißwurst-Äquators und westlich des Atlantiks nahezubringen versucht: „Nein, es ist nicht so schlimm, in Gütersloh zu leben; es ist sogar ganz gut.“

Die mittige Meile heißt zwar nicht Kö oder Ku, nicht Damm, nicht Boulevard oder Avenue, immerhin aber Berliner Straße, was doch von der Einsicht der Hiesigen zeugt, dass es da etwas zentraleres, einen Bezugspunkt gibt, eine Hauptstadt.

Draußen, vor den nicht vorhandenen Stadttoren im Südosten, bilden McDonald‘s auf der einen Seite und eine spießige Rotlicht-Villa auf der anderen die Markierungspunkte für die von Süden einfallenden Paderborner, Fuldaer und Römer.

Draußen, da läuft der große Highway vorbei, Paris – Warschau, oder hängen wir es etwas tiefer: Köln – Berlin, Dortmund – Hannover.

Der Blick reicht weit, immerhin bis zum Teuto. Dahinter all diese Gesundbrunnen- und Heilgärten-Orte, wo sich Leute werktags wie sonntags bewegen. Ich selbst stamme aus einer ähnlichen Stadt, deren erster Wortteil mit der Silbe „Bad“ beginnt. Mein Volksschullehrer sagte damals zu uns, für sein zweites Leben wünschte er sich, von Beruf Kurgast zu werden.

Und im Norden Nazareths die Ahnung einer Tiefebene, fast bis an das große Wasser Nordsee. Im Westen wieder mehr blauer Himmel über den alten Schloten.

Eine Eisenbahnstrecke führt auch vorbei an der Start-Up-City der Frühindustrialisierung. Arm, mäusearm war man auf dem nährstoffarmen Sennesand. Mancher Nachbar blieb es. Hier aber hielt die Eisenbahn. Ein Dichter fuhr später vorbei, schaute raus, war entzückt. Nannte sich Paris Gütersloh.

Ein bisschen ist einem immer zumute wie Marius Müller-Westernhagen: „Es geht mir gut; es geht mir gut“.

Im Großen und Ganzen stimmt‘s. Und doch zugleich diese leise Wehmut in diesem gerade erst mutig ausgesprochenen Satz. Trotzig – wie von einem, der seine Melancholie nicht zeigen will. „Gut geht’s mir. Sogar ganz gut.“

Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh. Von da kommt er wech. Wieder dieser melancholische Flor.

Für kurze Zeit in den vergangenen zwei, drei Jahren schien es so, als seien weder Autobahn noch Eisenbahn, weder Sparsamkeit noch Redlichkeit überhaupt von Nöten, wo doch niemand mehr von einem zum anderen eilen muss, Kommunikation über das Internet stattfindet und unendlicher Reichtum aus dem Neuen Markt kommen würde, wie der Strom aus der Steckdose. Ein flüchtiger Augenblick, eine kurze Hoffnungsspur. Der 300. Jahrestag der Selbstkrönung des ersten Preußischen Königs und das Ende der digitalen Goldgräber-Euphorie der New Economy bringen die bürgerliche Rückvergewisserung: Ohne eigene Leistung geht es nicht.

Die Gütersloher wussten das schon immer: die Landfrauen und die Schützen, die Frauenhilfe und die Alumnis jenes Elite-Gymnasiums, zu dessen Gründungspromotoren Carl Bertelsmann zählte. Eine Lehr- und Zuchtanstalt sollte es werden für die späteren Arbeiter in Gottes Weinberg. „Mehr leisten, weniger hervortreten“, heißt der dazugehörige preußische Imperativ. Dampfplauderern begegnet man hier mit Misstrauen und Ungeduld.

Wer in Reih und Glied bleibt, wer immer Treu und Redlichkeit übt, ist auf der sicheren Seite. Wirklich? Jedenfalls übersteht er locker die High- Potentials-Welle, die von den internationalen Business-Schools ins Lycos-besetzte Städtchen schwappt. Maria Unger, die aparte Rote mit dem wunderbar dichten schwarzen Haar, auch eine Eingeplackte, moderiert sie alle: die Pfeffersäcke der Innenstadt, die Bodenständigen, die Selbstgerechten und die Widerborstigen. Eine stabile Stadt – mit großer Integrationskraft und erstaunlicher Toleranz. Sozial – allemal, pietismus-bedingt. Selbst Halbverrückten bleibt der Rat der Stadt nicht verschlossen. Zur totalen Futuristik fehlt eigentlich nur noch Fosters Gläserne Kuppel auf dem Rathaus.

Dennoch: Es gibt Sehenswürdiges!

Detlef Güthenke hat sie alle aufgestöbert, die Ecken – mit ungewöhnlichen Sichtweisen, mit der anderen Perspektive. Und Susanne Zimmermann – eine, die es auch nicht lange aushielt in der Ferne – hat die ungewöhnlichen Abbildungen ihrer Heimatstadt mit authentischen Texten drapiert. Dort, wo graue Normalität zu herrschen scheint, muss der Betrachter seinen Blickwinkel verändern, wenn der Adrenalinspiegel steigen soll.

Ach ja, in Frankfurt, München, Hamburg, London und Paris gehen sie alle angeblich jeden Abend ins Theater, in die Oper, ins Konzert, ins Kabarett, in die Szenekneipen. Keiner streckt dort seine müden Glieder auf die Couch. Keiner – so scheint es, muss morgens früh raus zur Arbeit. Und in Gütersloh – da fehlt eigentlich alles. So kann der aus der Großstadt Zugereiste mühelos mit Samtjäckchen durch die Gassen schlendern und den braven westfälischen Bürgern Minderwertigkeitskomplexe suggerieren und dabei seine eigene vermeintliche Urbanität zur Schau stellen.

Die Realität in den großen Zentren ist eine andere. Schaut sie nur alle an: die gehetzten, bleichen, ausgemergelten Gesichter in Tokio, wo sie abends in ihre viel zu kleinen Wohnungen eilen, nachdem sie sich mit den Betriebskollegen in der Kneipe haben vollaufen lassen, deutsche Volkslieder singend, Abendstille übelall. Oder in New York – immer kurz vor dem Nervenzusammenbruch, in der mörderischen Konkurrenz der vielen Talentierten.

Gut: Alpen haben wir hier wirklich nicht; nur kleine Nachbildungen zwischen Stiftungssee und den Wohnterassen der Eimerheide-Anlieger.

Zugegeben: Rhein und Donau, Elbe und Wolga haben wir nicht. Nur ein liebenswertes Abbild, das tapfer und gemächlich der Ems entgegenrinnt.

Gut, gut: Eine Universität haben wir nicht. Nur eine Akademie für die angehenden Klempner der Informationsgesellschaft.

O.K.: Wir haben keinen wilden Park der Villa d’Este. Nur die in preußischer Baumschule erzogenen Gewächse des Apothekergartens. Ordentlich. Warum ist hier alles so ordentlich? Im geometrischen Schnittpunkt zwischen Husum, Görlitz, Garmisch und Kerken.

Das „Gütersloher Kammerorchester“ wird bald nicht mehr so heißen. Mit diesem Namen, lässt der Gütersloher Ex-Stiftische-Posaunen-Präside Malte Steinsieck verlauten, lasse sich am Markt der Kammerorchester kein Blumentopf gewinnen. Gütersloh, das klinge offensichtlich für viele Konzertveranstalter nach Provinz, nach Mittelmaß und allenfalls nach beherztem Hobbymusikantentum.

Nun könnte man solcher Argumentation entgegenhalten, dass viele Chöre und Klangkörper in kleinen Orten entstanden sind. Das musikalisch interessierte Publikum kennt die Gechinger Kantorei, aber wer kennt schon Gechingen? Und die Zentralen gewaltiger Konzerne wie Microsoft und AOL Time Warner liegen in ländlichen Orten wie Redmont und Dulles/Virginia.

Immerhin: Die Gütersloher haben sich selbst. Daraus lässt sich doch was machen – mit und ohne Leitkultur, mit oder ohne Leitbild, mit oder ohne Initiativkreis Stadtmarketing. Den Gütersloher erkennt man. Im wogenden Menschenmeer von „Gütersloh International“, irgendwo zwischen Kirchplatz und Rathausplatz, hat noch nie jemand einen betagten Isselhorster mit einem alten Istanbuler verwechselt.

Wir sind unique.

Wir hatten 30 Jahre denselben Stadtdirektor, und wir haben eine grüne Regierungspräsidentin. Wir haben einen unberechenbaren Medienkonzern und einen berechenbaren Waschautomatenkonzern. Wir haben die Blessenstätte und die Inselchen, die Langsamfahrer vor grünen Ampeln, die sanierte Alte Weberei, den Bachchor mit überregionaler Ambition und einen aufmüpfigen Unternehmer, der das zweitgrößte Medienunternehmen in Gütersloh führt und besitzt – und nicht bauen darf, was und wie er will. Da konnte schon der alte Nixdorf ein Lied von singen und hat mit dem Abzug seines Unternehmens aus Paderborn gedroht. Herausgekommen sind dabei Siemens-Nixdorf und Fujitsu-Siemens.

Wer festhält an der Bibel, übersteht sie: die vielen Versuchungen, die süßen und die Irrwege, könnte man meinen. Aber die Minden-Ravensbergische Erweckungsbewegung ist lange vorbei, und wer hält noch so ganz an der Bibel fest? Beim Neujahrsempfang der christlichen Kirchen dieser Stadt zu Beginn dieses Jahres sah man nur ein Häuflein Aufrechter. Den alten Weisen Helmut Lütkemeyer, der in Gütersloh mehr gepflanzt, aufgepäppelt und zur Blüte geführt hat, als nur die Sprösslinge pflanzlichen Saatguts. Sonst sah man kaum jemanden. Oder stimmt nur die Beziehungskiste zwischen dem Städtischen und dem Kirchen-Establishment nicht? Oder herrscht einfach Empfangsmüdigkeit, gar Angebots- und Reizüberflutung mitten in der Provinz?

Carl Amery hat Provinz definiert als das Phänomen der Signalverspätung. Mag sein, dass hier manches etwas später ankommt. Andere meinen: Es gibt keine Provinz; es sei denn in unseren Köpfen. Kreativ ist man in Los Angeles, Mailand und Gütersloh. Oder man ist es nicht.

In dieser Stadt landen mitten auf einem wohl abgezirkelten See Hubschrauber, und junge Wilde feiern dortselbst nächstens eine Party, ohne dass die dreimal intervenierende Polizei wirklich einen von ihnen in den Karzer gesteckt hätte. In dieser Stadt kommen Unter den Ulmen die jungen Schwarzberockten zusammen, um sich After Work Party-mäßig abzuschütteln – das Ganze in einer vom Katholischen Vereinshaus zur Quasi-Brauerei gemendelten Stube.

Aus dieser Stadt kommt Hans Werner Henze, geboren in der Brunnenstraße, vor wenigen Monaten mit dem „Praemium Imperiale Award“ ausgezeichnet, einer Art Nobelpreis der Musik. Er ist zweifellos einer der herausragenden Komponisten unserer Zeit.

Henze hat sich in seinen jüngeren Jahren kritisch zu seinem Geburtsort geäußert. So war das Verhältnis, habe ich gelernt, sehr lange Zeit nicht gerade spannungsfrei.

Die meisten Gütersloher sehen – überraschend oder nicht – das Verhältnis zu ihrer Heimatstadt bzw. zu ihrem unmittelbaren heutigen Lebensumfeld positiv.

Die Bertelsmann-Unternehmenskommunikation hat EMNID gebeten, die Befindlichkeit der Gütersloher zu erkunden. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut hat das Wohlbefinden der Gütersloher Bürger untersucht. Die Befragung wurde gerade erst zwischen dem 19. und 21. Februar vorgenommen, ist also brandneu. Es gibt also: das Gütersloher „Wohlfühl-Barometer“.

Es wurden befragt: Männer und Frauen, junge Leute unter 18 und Bürger ab 18 aufwärts. Es wurden solche befragt, die hier aufgewachsen sind und die anderen, die erst später hinzukamen.

Es ist eine Repräsentativbefragung, denn es wurden über 1000 – exakt 1.108 – Einwohner zwischen 14 und 94 Jahren befragt. Die genaue Fragestellung der Interviewer hieß:

„Wenn Sie jetzt einmal ganz allgemein an das Leben in der Stadt Gütersloh denken: Was würden Sie sagen, wie wohl fühlen Sie sich persönlich in Gütersloh? Bitte sagen Sie mir Ihre Einschätzung anhand einer Skala von 1 bis 6, wobei „1“ bedeutet, dass Sie sich in der Stadt Gütersloh „sehr wohl“ fühlen und „6“ bedeutet, dass Sie sich in der Stadt Gütersloh „überhaupt nicht wohl“ fühlen. Mit den Werten dazwischen können Sie abstufen.“

Nehmen wir das Ergebnis alles in allem, so gibt es eine hohe Zufriedenheit. Kaum Bewertungen in den Bereichen „4“, „5“ und „6“.

23 Prozent der Bürger fühlen sich sehr wohl, 35 wohl. 28 Prozent geben die mittlere Note „3“. Experten und Meinungsforscher wissen, dass in solchen Befragungen niemand gerne Negativ-Noten gibt und der scheinbare mittlere Wert „3“ weniger als sonst einen Wert in der Mitte darstellt, sondern schon eine Portion Unbehagen beinhaltet.

Dennoch: Das meiste befindet sich im positiv-neutralen Bereich. Immerhin votiert eine Mehrheit von 58 Prozent der Bürger mit „sehr wohl“ und „wohl“.

Die soziodemographische Einzelaufsplittung sagt: Die älteren fühlen sich wohler als die jüngeren, die Frauen tendenziell wohler als die Männer. Jene, die ihre Jugendzeit überwiegend in Gütersloh verbracht haben, zeigen ein höheres Wohlbefinden als die Hinzugekommenen. Das ist verständlich.

Nimmt man alles in allem und will es auf eine kurze mathematische Formel bringen (was die Meinungsforscher in dieser Vereinfachung so nicht gestatten würden), so geben die Bürger von Gütersloh in diesem Wohlfühl-Barometer ihrer Stadt die Durchschnittsnote 2,4.

So will ich zum Schluss denn sagen: Leute, öffnet die Augen wie Detlef Güthenke seine Kamera-Linse! Bleibt kritisch-konstruktiv oder konstruktiv-kritisch wie Susanne Zimmermann! Gebt den Dingen einen Rahmen, der Stil und Ambition verrät, wie ihn Eckard Kleßmann mit seinem Layout dem Gütersloh-Buch gegeben hat. Jede Stadt im amerikanischen Mittelwesten, in Texas oder Utah, ist einem verkommenen Friedhof ähnlicher. Diese Stadt, deren aufregende Initialen GT mehr Hockenheim-Sound als Mohn’s Park-Feeling vermitteln, kann es allemal aufnehmen mit den vielen anderen, denn sie ist mehr als die Summe von Tankstelle, Motel, Mormonenkirche und Straßendorf mit angeschlossenem Bessere-Leute-Viertel aus Bretter-Villen. Und Stritz von Hallmanns kann allemal bestehen gegen Burgers Barbeque – jedenfalls bei solchen, die den Rinderwahn nicht scheuen.

Überall ist Gütersloh, weil überall auch Mediokrität ist. Das soll unsere Sorge nicht sein. Nur: Was könnte hier sprießen und blühen, innovieren und wildern, wenn es diese verdammte Neigung nicht gäbe, alles zuzupflastern, alles gerade zu machen, was krumm bleiben sollte, und diesem puritanischen Hang zum Sterilen, Antiseptischen und Koffeinfreien zu folgen.

Es kann auch keine noch so gefügige Statistik und kein noch so positives Einzelhandelsvotum darüber hinwegtäuschen, dass der Kolbeplatz nur wirklich lebt, wenn mindestens eine Eisbahn draufgebaut ist und der Berliner Platz lebt als Weihnachtsmarkt oder als Sammel-, Ausgangs- und Rückkehrpunkt für die Wanderer in einer langen Kulturnacht, die es nicht mehr geben soll. Das verstehe, wer will.

Kein braunweißes Schild an der Autobahn verspricht Historische Altstadt, Dom, Schloss, Freilichtbühne oder Musicalflora. Dies ist nicht Dalke-Florenz. Dennoch, Gütersloher: Sperrt die Autobahn ab und leitet den Verkehr runter in die Stadt! Haltet die Züge an und lasst die Leute aussteigen! Zweifelt nicht an Euch selbst, sondern ladet alle ein. Gütersloh als Tafel.

Ihr seid ja gar nicht stur und verschlossen. Das hat Euch irgend jemand irgendwann einmal einreden wollen. Und wenn Ihr im nächsten Sommerurlaub auf Gran Canaria, in Dänemark oder an der Costa del Sol gefragt werdet, woher Ihr denn kommt, dann sagt nicht: „Aus der Gegend zwischen Dortmund und Hannover“.

Sagt laut und selbstbewusst: „Aus Gütersloh!“

Woher denn sonst?

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, Geduld und Toleranz.